Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie: DGPPN veröffentlicht Positionspapier

dgppn-headerEmpfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie

Religiöse und spirituelle Überzeugungen können für Menschen mit psychischen Erkrankungen eine wichtige Ressource sein, gleichzeitig aber auch die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erschweren. In einem neuen Positionspapier gibt die DGPPN Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung.

Ausgangslage

Die kulturelle Vielfalt in der Gesellschaft nimmt zu, vor allem durch Migration und die Differenzierung der Lebenswelten. Dies macht eine kultur- und religionssensible psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Patienten mit unterschiedlichen Hintergründen notwendig (Kizilhan 2015). In den USA werden mittlerweile ausdrücklich religiöse und spirituelle Kompetenzen für Psychiater und Psychotherapeuten beschrieben und gefordert (Morgan & Sandage 2016; Vieten et al. 2013). Auch hierzulande erwarten Patienten mit psychischen Erkrankungen von ihrem Psychiater und Psychotherapeuten eine ganzheitliche Wahrnehmung ihrer Lebenssituation einschließlich deren existenzieller, spiritueller und religiöser Dimension (Best et al. 2015; Curlin et al. 2007; Huguelet et al. 2011; Lee et al. 2015). In einer kürzlich durchgeführten explorativen Studie wurde bei 30 Patienten einer Verhaltenstherapieambulanz die Bedeutsamkeit existenzieller Themen für die Krankheitsverarbeitung erhoben. Die direkte Ansprache und unmittelbare Bearbeitung existenzieller Themen in der Therapie erwies sich dabei als therapierelevant (Grober et al. 2016).

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So begegnen wir z. B. Patienten, die an Geister glauben, zwanghaft beten oder religiöse Endzeiterwartungen haben. Ohne Verständnis für die kulturellen und religiösen Besonderheiten besteht die Gefahr, dass religionsspezifische Tabus und Grenzen unwissentlich durch den Behandler verletzt werden. In der Akutpsychiatrie ist die Einbeziehung von Religiosität und Spiritualität in die Anamnese und in die Differentialdiagnose erforderlich, z. B. bei Suizidalität, religiösem Wahn, depressivem Schuldgefühl und bei Traumafolgestörungen.

Zur Begriffsklärung: Unter Religion wird in diesem Papier eine Gemeinschaft verstanden, die Traditionen, Rituale, Texte teilt (Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus u. a.). Religiosität meint über die institutionelle Religionszugehörigkeit hinaus eine persönliche Gestaltung und Lebenspraxis von Religion. Spiritualität wird in den Gesundheitswissenschaften allgemein als Containerbegriff verstanden, der die persönliche Suche nach dem Heiligen, nach Verbundenheit oder Selbsttranszendenz meint und ausdrücklich auch Weltanschauungen außerhalb der institutionalisierten Religionen mit einschließt (Bucher 2014; Pargament 2013). Existenziell werden (Grenz-)Erfahrungen genannt, die mit Sinnkrisen einhergehen, insbesondere im Kontext von Krankheit und Tod (La Cour 2012; Schnell 2016).

Seit den islamistischen Terroranschlägen, die den Westen ab dem 11.09.2001 verändert haben, ist eine neue, intensive Debatte um den Platz der Religion in der modernen Gesellschaft entbrannt, die auch Psychotherapeuten beschäftigt (Kühn et al. 2010). Der konstruktive Dialog zwischen religiösen und säkularen Lebensformen ist dabei für eine pluralistische Gesellschaft zukunftsweisend. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive hat Straub (2016) kürzlich herausgearbeitet, dass die lebensweltlich bedeutsamste Konfliktlinie unserer Zeit nicht mehr zwischen religiös Gläubigen und Ungläubigen verläuft, sondern zwischen Menschen, die Kontingenzbewusstsein und Offenheit in ihr komplexes Selbst- und Weltverhältnis integriert haben, und denen, die totalitär strukturiert sind – gleichgültig, ob sie nun gläubig sind oder nicht.

Sinn kann durch säkulare und religiös-spirituelle Lebens- und Weltdeutungen gefunden werden. Dabei dienen die subjektiven Werte als Interpretationsrahmen, die bisher in der Psychotherapie zu wenig berücksichtigt worden sind (Flassbeck & Keßler 2013; Frey 2016). Durch die Verbreitung von achtsamkeitsbasierten Ansätzen hat unter Psychiatern und Psychotherapeuten ein neues Nachdenken über psychotherapeutische Werte und ihre Ethik eingesetzt (Grossman & Reddemann 2016). Weil in jeder Psychotherapie Werte vermittelt werden, sind die Reflexion und die Transparenz der eigenen Werte und Grundannahmen wichtig, um angemessen mit Religiosität und Spiritualität umzugehen.

Die fachliche Diskussion über die Einbeziehung von Religiosität und Spiritualität in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung bewegt sich zwischen den folgenden Extremen: Einerseits empfehlen manche Autoren spirituelle Behandlungsmethoden, das heißt die Einbeziehung spiritueller oder religiöser Lehren und Praktiken aufgrund empirischer Evidenz (Anderson et al. 2015). Andererseits warnt das österreichische Gesundheitsministerium vor Grenzverletzungen und dem Aufgeben wissenschaftlicher Standards und verbietet esoterische Inhalte, spirituelle Rituale und religiöse Methoden in der Psychotherapie (Österreichisches Bundesgesundheitsministerium 2014). Die Einschätzung von Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie ist in hohem Maße vom kulturellen Kontext abhängig. Die DGPPN hat deshalb eine Task-Force eingesetzt mit dem Auftrag, ein Positionspapier zu dem Thema zu erstellen und damit eine Diskussion über das Thema innerhalb des deutschen Versorgungssystems zu fördern. Durch ihre personelle Zusammensetzung stellt die Task-Force die Ausgewogenheit hinsichtlich Religion und Konfession, der kulturellen Herkunft, Berufsgruppenzugehörigkeit sowie Genderaspekten sicher.

Die in früheren Jahren vorherrschende Religionskritik und Pathologisierung von Religiosität und Spiritualität ist heute nicht mehr angemessen. Die kritische Haltung sollte aber nicht undifferenziert durch eine Idealisierung dieses Feldes ersetzt werden. Psychiatrie und Psychotherapie können einen wichtigen fachlichen Beitrag für die Formulierung von Kriterien für einen heilsamen Umgang mit Religiosität und Spiritualität leisten.

Grundannahmen

  • Religiosität und Spiritualität werden als anthropologische Universalien angesehen (Luckmann 2002; Meindl & Bucher 2015). Sie gehören zum Menschsein und sind im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung zu würdigen – unabhängig von einem möglichen Einfluss auf Gesundheitsoutcomes (Koenig 2008, 2012) oder auf die Effizienz therapeutischer Interventionen.
  • Religiosität und Spiritualität sind sowohl beim Patienten als auch beim Behandler identitätsbildend. Dies wird in existenziellen Krisen und Grenzsituationen besonders deutlich, aber auch in Momenten der Sinnerfülltheit und Lebensphasen existenzieller Indifferenz (Schnell 2016).
  • Religiosität und Spiritualität sind als persönliches Sinnsystem und kulturbildende Einflussfaktoren in der Psychotherapie wahrzunehmen und zu würdigen (Utsch et al. 2014). Aufgrund der Berufsethik sind Psychiater und Psychotherapeuten verpflichtet, ihre Patienten zu achten, unabhängig insbesondere von Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung, sozialer Stellung, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder politischer Überzeugung.

Zum aktuellen Forschungsstand

Bei der Sichtung der englischsprachigen Literatur zum Verhältnis von Religiosität und Psychotherapie (z. B. Anderson et al. 2015; Goncalves et al. 2015; Lim et al. 2014; Ross et al. 2015) fällt auf, dass Religiosität und Spiritualität häufig als modularer Bestandteil der Psychotherapie selbst (z. B. im Rahmen von kognitiver Verhaltenstherapie) gesehen werden. Wegen ihrer Kulturgebundenheit können die hauptsächlich aus den USA stammenden Forschungsergebnisse nicht ohne weiteres auf die europäische Situation übertragen werden, hier muss die dünne Datenlage dringend verbessert werden. Im deutschsprachigen Raum besteht – anders als in den USA – eine große Zurückhaltung gegenüber spirituellen Interventionen in der Psychotherapie. Eine Ausnahme stellen buddhistisch-meditative Elemente in achtsamkeitsbasierten Therapien dar (Anderssen-Reuster 2011; Anderssen-Reuster et al. 2013; Harrer & Weiss 2016).

Es gibt eine große Fülle an Studien zum Zusammenhang von Religiosität und Spiritualität mit Gesundheit, vor allem aus dem englischsprachigen Bereich (Koenig et al. 2012). Bei aller methodischen Sorgfalt vieler Untersuchungen zu spirituellen Interventionen fällt auf, dass die Autoren die Therapieeffekte eher auf die Wirkkraft des Glaubens zurückführen als auf psychologische Mechanismen. Darin besteht ein grundlegender Bias. Diesbezüglich gibt es allerdings auch in den USA kritische Stimmen (Sloan 2006; Sloan et al. 2000). Wir brauchen daher psychiatrische und psychologische Zusammenhangsmodelle für die Frage, warum Religiosität und Spiritualität als Ressource oder Belastungsfaktor wirken können (Murken 1997; Schowalter & Murken 2003).

Aus europäischer Sicht wird bei spirituellen Psychotherapiemodulen die Gefahr unzulässiger Grenzüberschreitung und übergriffigen Therapeutenverhaltens stärker thematisiert als in den USA (Galanter et al. 1990). Auch wenn die Bedeutung existenzieller Themen in der Psychotherapie anerkannt wird, bleiben einige Fragen offen – z. B.: Ist Sinngebung Aufgabe von psychotherapeutischen Interventionen (Hardt & Springer 2012)? Wie weit darf die psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung des Patienten in seiner existenziellen, religiösen und spirituellen Suche gehen? Welche professionellen Grenzen sind notwendig und sinnvoll, um die Freiheit von Patient und Behandler zu schützen?

Es wird deutlich, dass religiöse und spirituelle Themen in der Psychiatrie und Psychotherapie noch nicht ausreichend fachlich reflektiert, beforscht und im Ausbildungskontext vermittelt werden. Dies ist umso wichtiger, da neben den klassischen Religionen ein ausufernder psycho-spiritueller Lebenshilfemarkt entstanden ist, auf dem z. T. fragwürdige Angebote vorgehalten werden (Brentrup & Kupitz 2015; Murken & Namini 2008).

In englischsprachigen psychologischen und psychiatrischen Fachgesellschaften spielen Religiosität und Spiritualität seit Längerem eine bedeutende Rolle, was sich unter anderem in eigenen Leitlinien niedergeschlagen hat (Cook 2013; Galanter et al. 1990; Gross o. J.; Moreira-Almeida et al. 2015; Peteet et al. 2006).

Personen mit psychischen Erkrankungen wenden sich in den USA häufig an den Leiter ihrer religiösen Gemeinschaft. Deshalb hat die American Psychiatric Association (APA, 2016) eine „Mental Health and Faith Community Partnership“ ins Leben gerufen und eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Diese hat für die Leiter und Seelsorger religiöser Gemeinschaften einen Ratgeber verfasst, wie angemessen mit psychischen Erkrankungen umgegangen werden sollte.

In der „World Psychiatric Association“ (WPA) arbeitet die Sektion „Religion, Spiritualität und Psychiatrie“ zu diesbezüglichen Fragen und veröffentlicht ihre Ergebnisse auf einer eigenen Internetseite und einem regelmäßigen Rundbrief (WPA, 2015). Zuletzt hat die WPA ein Positionspapier zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität veröffentlicht (Moreira-Almeida et al. 2015). Weil die empirische Evidenz zeigt, dass Religiosität und Spiritualität die Prävalenz (insbesondere bei Depressionen und Suchterkrankungen), die Diagnose (Unterscheidungen zwischen spirituellen Erfahrungen und psychischer Krankheit) und die Behandlung (Einbeziehung spiritueller Bedürfnisse) psychischer Erkrankungen beeinflussen, empfiehlt die WPA ihren Mitgliedern mehr Aufmerksamkeit für diese Themen.

Der amerikanische Fachverband der Psychologen hat in den letzten 15 Jahren über ein Dutzend Lehrbücher zur Psychologie der Religiosität und Spiritualität herausgegeben. Religionspsychologische Erkenntnisse werden in dem Fachjournal „Psychology of Religion and Spirituality“ veröffentlicht. Seit zwei Jahren erscheint zusätzlich die Quartalsschrift „Spirituality in Clinical Practice“, die spirituell geprägte klinische Interventionen wissenschaftlich untersucht (www.apa.org/pubs/journals/scp). Pargament (2013) hat mit Kollegen ein zweibändiges Handbuch herausgegeben, das den aktuellen Wissensstand zusammenfasst.

Das britische „Royal College of Psychiatrists“ bietet in seiner Fachgruppe „Psychiatrie und Spiritualität“ regelmäßig Fortbildungen zu diesbezüglichen Fragen an und zählt mittlerweile über 3000 Fachmitglieder. Auf einer eignen Internetseite werden Materialien bereitgestellt und Tagungshinweise gegeben (Royal College of Psychiatrists 2016). Die Fachgruppe hat ein Konsenspapier zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität vorgelegt (Cook 2013). Darin werden die Fachmitglieder darauf verpflichtet, den religiösen oder spirituellen Bindungen ihrer Patienten mit einfühlsamer Achtung und Respekt zu begegnen. Klinisch Tätige sollen keine religiösen oder spirituellen Rituale als Ersatz für professionelle Behandlungsmethoden anbieten. Andererseits wird auf die Bewältigungskraft positiver Spiritualität hingewiesen, durch die Hoffnung und Sinn vermittelt werden könne.

Ähnliche Initiativen entwickeln sich derzeit auch in Deutschland. Dennoch besteht hier großer Nachholbedarf in Forschung, Lehre, Ausbildung und klinischer Arbeit.

Empfehlungen der DGPPN-Task-Force

  • Interkulturelle Kompetenz
    Da Religiosität und Spiritualität kulturell geprägt sind, sollten die individuellen Gesundheits- und Krankheitskonzepte in einer kultur- und religionssensiblen Weise erfragt werden.
    Dazu gehört die Fähigkeit des Therapeuten zum Perspektivenwechsel. Anregend erweist sich diesbezüglich das Cultural Formulation Interview (CFI), das im Rahmen des DSM-5 entwickelt wurde (APA 2013). Kultur- und sprachgebundene Missverständnisse sollten ausgeräumt werden.
  • Anamnese
    Die Erfassung der Wertvorstellungen und religiösen Überzeugungen sowie deren Relevanz im Leben gehört zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Anamnese (Frick et al. 2002).
  • Religiosität und Spiritualität im Behandlungsplan
    Der Behandler sollte in der Lage sein, Religiosität und Spiritualität als Ressource und/oder Belastungsfaktor für Patienten zu erkennen und in die Behandlungsstrategie einzubinden.
    Dies gilt auch, wenn er selbst areligiös ist oder einer anderen Weltanschauung verpflichtet ist als der Patient. Insofern müssen die Sicht des Patienten auf Religiosität und Spiritualität sowie seine diesbezüglichen Wertungen verstanden und im Behandlungsplan berücksichtigt werden. Auch bei Patienten ohne religiöse/spirituelle Anbindung ist eine Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen oft erforderlich. Die Akzeptanz von religiösen/spirituellen Überzeugungen bei Patienten findet dort ihre Grenzen, wo Selbst- und Fremdgefährdung vorliegen.
  • Grenzverletzungen aus religiösen oder spirituellen Motiven
    Die therapeutische Beziehung sowie die therapeutische Behandlung in Institutionen brauchen eindeutige Regeln. Wenn diese aufgrund religiöser und spiritueller Überzeugungen (z. B. religiöser Fanatismus/Fundamentalismus) verletzt werden, muss der Patient mit den geltenden Regeln als Teil des Realitätsprinzips konfrontiert werden.
    Je nach Setting (Ambulanz, stationäre Akutpsychiatrie, Praxis usw.) sind differenzierte Interventionen erforderlich, die Grenzen schützen bzw. wiederherstellen.
  • Professionelle Grenzen
    Psychiater und Psychotherapeuten haben sich durch ihre Berufsethik verpflichtet, innerhalb des Methodenspektrums ihrer Profession tätig zu sein.
    Dies schließt religiöse oder spirituelle Interventionen aus. Dies stellt eine sinnvolle und notwendige Selbstbeschränkung dar. Dabei muss trotzdem sichergestellt werden, dass die Religiosität/Spiritualität des Patienten in der Therapie Raum haben kann. Die Task-Force hält es für geboten, dass die deutschsprachige Psychiatrie und Psychotherapie sich stärker mit diesem Thema beschäftigt als bisher.
  • Diversity Management
    Angesichts des Marktes vielfältiger psychospiritueller Angebote mit zum Teil fragwürdigen Versprechen und Rahmenbedingungen empfiehlt die Task-Force die Transparenz des jeweiligen weltanschaulichen Hintergrundes, die Wahrung der professionellen und wissenschaftlichen Standards sowie ein kultur- und religionssensibles Vorgehen.
  • Neutralität
    Der Behandler sollte auf eine respektvolle Weise religiös neutral bleiben, aber aufgeschlossen sein für einen möglichen Transzendenzbezug seines Patienten.
    Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen einerseits und Seelsorge und spirituelle Führung andererseits sollten unterschieden werden und getrennt bleiben. Eine Zusammenarbeit im Interesse des Patienten kann aber in vielen Fällen sinnvoll sein. Hierfür ist es hilfreich, wenn Seelsorger ihr psychiatrisches und psychotherapeutisches Grundwissen verbessern.
  • Passung in der therapeutischen Beziehung
    Die Fragen der Wechselwirkung und Passung der religiösen/spirituellen Grundhaltung zwischen Patient und Behandler sind in der Selbsterfahrung zu reflektieren. Voraussetzung dafür ist, dass der Psychiater und Psychotherapeut seine eigene weltanschauliche Orientierung kennt und kritisch reflektiert.
    Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Kontext den Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen zu. In Reflexion, Selbsterfahrung und Supervision sind besonders zu berücksichtigen: das Spannungsfeld zwischen der weltanschaulichen Neutralität und der religiösen oder spirituellen Selbstdeklaration des Psychiaters und Psychotherapeuten sowie Wahrheits- und Wertefragen.
  • Aus-, Fort- und Weiterbildung
    Die psychiatrische, psychotherapeutische und psychosomatische Aus-, Fort- und Weiterbildung muss sowohl hinsichtlich eines Grundwissens von Religions- und Weltanschauungsfragen und insbesondere hinsichtlich diesbezüglicher Selbsterfahrungs-Angebote verbessert werden.
    Kompetenzen in Bezug auf Haltungen, Wissen und Fähigkeiten (attitudes, knowledge and skills) zu Religiosität und Spiritualität sollen geschult und entwickelt werden. Entsprechende Lernziele sollten in das Medizinstudium sowie in die Weiterbildungsordnungen integriert werden.
  • Forschung
    Forschung über die Bedeutung von Weltanschauungen und Sinngebungsmodellen als Belastung und Ressource im deutschsprachigen Bereich ist sinnvoll und notwendig.
    Ein interdisziplinärer Dialog zwischen Religionspsychologie, Theologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ist erwünscht und notwendig. Folgende Forschungsthemen erscheinen u. a. wichtig: (1) Wahrnehmen von religiösen/spirituellen Bedürfnissen der Patienten, (2) Religiosität und Spiritualität als Behandlungshindernis und (3) Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe mit Seelsorge-Angeboten.

Autoren

Prof. Dr. phil. Michael Utsch, Honorarprofessor für Religionspsychologie an der Ev. Hochschule in Marburg und Leiter des DGPPN-Referats Religiosität und Spiritualität
Dr. med. Ulrike Anderssen-Reuster, Leitende Ärztin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Städtischen Krankenhauses Dresden-Neustadt
Prof. Dr. med. Eckhard Frick, Professor für Anthropologische Psychologie an der Hochschule für Philosophie München
Werner Gross, Dipl.-Psych., Psychologisches Forum Offenbach/Main
Prof. Dr. rer. nat. Sebastian Murken, Honorarprofessor für Religionswissenschaft und Religionspsychologie an der Philipps-Universität Marburg
Dr. med. Meryam Schouler-Ocak, Leiterin des DGPPN-Referats Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration
Dr. med. Dr. phil. Gabriele Stotz-Ingenlath, stellvertretende Leiterin des DGPPN-Referats Religiosität und Spiritualität