Etwa sieben Jungen werden jedes Jahr in Deutschland geboren, deren Harnröhre und Blasenschließmuskel unvollständig ausgebildet sind. Trotz komplizierter Operation bleiben die sonst gesunden Kinder oft ihr Leben lang inkontinent. In einer klinischen Studie wollen Forschende vom ECRC, dem gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max-Delbrück-Centrums für molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC), nun prüfen, ob den Kindern mithilfe einer Transplantation ihrer eigenen Muskelstammzellen in den Schließmuskel geholfen werden kann. Das Bundesforschungsministerium (BMBF) fördert die Studie mit rund 3,3 Millionen Euro. Das Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité hat das Vorhaben mit seinem Spark-BIH-Programm auf dem Weg vom Labor in die Klinik mit einer Million Euro unterstützt.
Über 8.000 verschiedene Seltene Erkrankungen sind bekannt, über 30 Millionen Menschen sind allein in Europa betroffen. Therapien für diese meist noch nicht behandelbaren Krankheiten zu entwickeln, ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe und damit Herausforderung für die Forschung. Die Epispadie ist eine davon. Hier führt eine vorgeburtliche Entwicklungsstörung zu einer abnormalen Lage und Spaltbildung der Harnröhre und einem unvollständig ausgebildeten Blasenschließmuskel. Nur etwa sieben Jungen und noch weniger Mädchen werden jedes Jahr in Deutschland mit dieser Besonderheit geboren. Sie ist mit einem hohen Leidensdruck verbunden: denn die von außen sichtbare Fehlbildung kann man mit einer Operation beheben, das gelingt aber leider beim Blasenschließmuskel nicht so einfach. „Daher sind diese Kinder oft lebenslang inkontinent, was mit einer hohen psychologischen Belastung für die Betroffenen und deren Familien einhergeht“, erklärt Prof. Dr. Simone Spuler vom ECRC, Spezialistin für Stammzell- und Muskelforschung. „Wir haben deshalb überlegt, wie wir ihnen mit unserer Expertise helfen können.“
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Prof. Spuler hatten eine Methode entwickelt, mit der sie regenerationsfähige Muskelstammzellen aus Muskelgewebe isolieren können. „Wir nehmen eine Gewebeprobe, eine Biopsie, aus dem Oberschenkel und isolieren daraus Muskelstammzellen. Diese vermehren wir anschließend auf ein Vielfaches und spritzen sie direkt in die Defektstelle des Blasenschließmuskels.“ Bei Ratten führte das tatsächlich dazu, dass sich ein neuer Schließmuskel bildete, der auch funktionstüchtig war. Da deren verändertes Immunsystem menschliche Zellen tolerierte, gelang dies auch mit menschlichen Muskelstammzellen.
„Doch trotz dieser ermutigenden Ergebnisse konnten wir nicht sofort eine klinische Studie mit Betroffenen beginnen“, erklärt die Medizinerin. „Denn die Vorschriften sind streng. Nur Zellen, die in einem pharmazeutischen Herstellungsverfahren, der sogennanten „good manufacturing practice“ – kurz GMP – produziert werden, dürfen im Menschen angewandt werden. Dieses Verfahren aufzusetzen ist sehr anspruchsvoll.“ Die unter GMP-Bedingungen hergestellten Zellen werden für die präklinischen Sicherheitsprüfungen zunächst im Tiermodell eingesetzt. Die Auflagen der Zulassungsbehörden, in Deutschland des Paul-Ehrlich-Instituts, verlangen, dass nur speziell dafür akkreditierte Labore die Tierversuche für eine klinische Studie durchführen dürfen. Der Fachbegriff ist „good laboratory practice“ – GLP-Bedingungen. Auf der Suche nach einem GLP-Labor, das gleichzeitig über mikrochirurgische Fähigkeiten verfügte, mit denen sich die Muskelstammzellen in den Blasenschließmuskel von Ratten übertragen lassen, wurden die Forschenden in den USA fündig: „Ungefähr 300 Kilometer östlich von Chicago, mitten in Michigan, gab es ein solches Labor“, berichtet Prof. Spuler. „Um den dortigen Kollegen genau zu erklären, was wir planen, mussten wir mehrmals in die USA reisen. Die Vorbereitungen, die erforderliche Einarbeitungszeit und die Durchführung der Versuche waren unglaublich zeit- und kostenintensiv. Das hätten wir ohne die Unterstützung durch das BIH-Spark-Programm nicht geschafft!“
Eine Million Euro stellte das BIH dem Forschungsteam um Prof. Spuler zur Verfügung. „Genau dies ist unser Anliegen“, erklärt Prof. Dr. Christopher Baum, Vorsitzender des BIH-Direktoriums und Vorstand für den Translationsforschungsbereich der Charité. „Wir wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dabei unterstützen, ihre Ergebnisse aus dem Labor zu den Patientinnen und Patienten zu bringen und damit die medizinische Translation fördern. Damit erreichen wir, dass aus Forschung Gesundheit wird.“ Dr. Tanja Rosenmund, die Leiterin des BIH-Spark-Programms freut sich ebenfalls. „Das Projekt für die Epispadie ist deshalb so spannend, weil es – falls es gelingt – viele weitere Möglichkeiten eröffnet: Inkontinenz ist ja ein weit verbreitetes Problem und Muskelschwäche ohnehin. Wir hoffen deshalb, mit dieser Förderung möglichst vielen weiteren Studien den Weg zu ebnen.“
Nachdem die Ergebnisse in den USA gezeigt hatten, dass die transplantierten Muskelstammzellen die Inkontinenz bei den Ratten beheben konnte und die Sicherheit des Zellproduktes bestmöglich bestätigt werden konnte, steht nun der klinischen Studie nichts mehr im Weg: 21 betroffene Jungen im Alter zwischen drei und siebzehn Jahren sollen an den Universitätskliniken Ulm und Regensburg behandelt werden. Dort leiten Prof. Dr. Anne-Karoline Ebert und Prof. Dr. Wolfgang Rösch Zentren für Kinderurologie. Die Studie ist Placebo-kontrolliert, randomisiert und doppelt verblindet geplant. Das bedeutet, dass zufällig ausgewählte fünf der 21 Jungen ein Placebo (Kochsalzlösung) statt ihrer eigenen Muskelstammzellen erhalten. Weder Behandelnde noch Patientinnen und Patienten wissen bis zum Ende der Studie, wer diese fünf waren. „Das müssen wir tun, um wissenschaftlich gesicherte Ergebnisse zu erhalten“, erklärt Prof. Spuler. „Wenn sich nach der Datenanalyse zeigt, dass es den Kindern nach der Zellinjektion besser geht als denen, die das Placebo erhalten haben, besteht natürlich die Möglichkeit, die Zellinjektion nachzuholen. Das ist möglich, da sich die isolierten Muskelstammzellen problemlos tiefgekühlt aufbewahren lassen.“ In wenigen Monaten soll der erste Patient behandelt werden.
Über die Charité – Universitätsmedizin Berlin
Die Charité – Universitätsmedizin Berlin ist mit rund 100 Kliniken und Instituten an 4 Campi sowie 3.001 Betten eine der größten Universitätskliniken Europas. Forschung, Lehre und Krankenversorgung sind hier eng miteinander vernetzt. Mit Charité-weit rund 16.391 und konzernweit 19.400 Beschäftigten aus über 100 Nationen gehört die Berliner Universitätsmedizin zu den größten Arbeitgeberinnen der Hauptstadt. Dabei waren 4.707 der Beschäftigten im Pflegebereich und 4.693 im wissenschaftlichen und ärztlichen Bereich tätig. An der Charité wurden im vergangenen Jahr 132.383 voll- und teilstationäre Fälle sowie 655.138 ambulante Fälle behandelt. Im Jahr 2020 hat die Charité Gesamteinnahmen von rund 2,2 Milliarden Euro, inklusive Drittmitteleinnahmen und Investitionszuschüssen, erzielt. Mit den 196 Millionen Euro eingeworbenen Drittmitteln erreichte die Charité einen erneuten Rekord. An der medizinischen Fakultät, die zu den größten in Deutschland gehört, werden mehr als 8.600 Studierende in Humanmedizin, Zahnmedizin sowie Gesundheitswissenschaften ausgebildet. Darüber hinaus gibt es 577 Ausbildungsplätze in 10 Gesundheitsberufen. Die Berliner Universitätsmedizin setzt Akzente in den Forschungsschwerpunkten: Infektion, Inflammation und Immunität einschließlich Forschung zu COVID-19, Kardiovaskuläre Forschung und Metabolismus, Neurowissenschaften, Onkologie, Regenerative Therapien sowie Seltene Erkrankungen und Genetik. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Charité arbeiten unter anderem in 28 DFG-Sonderforschungsbereichen, darunter sechs mit Sprecherfunktion, in drei Exzellenzclustern, davon eines mit Sprecherschaft, 9 Emmy-Noether-Nachwuchsgruppen, 14 Grants des European Research Councils und 9 europäischen Verbundprojekten mit Charité-Koordination. Forschung an der Charité