Merkel: Ich drücke mich nicht vor der Verantwortung

Bundeskanzlerin Dr Angela Merkel/BPA
Bundeskanzlerin Dr Angela Merkel/BPA

Eingangserklärung der CDU-Vorsitzenden Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Ausgang der Wahlen zum Abgeordnetenhaus Berlin am 19.09.2016:

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Meine Damen und Herren, die gestrige Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus hat für die CDU ein sehr unbefriedigendes, ein enttäuschendes Ergebnis erbracht. Die CDU hat gegenüber dem letzten schon nicht guten Ergebnis noch einmal fast sechs Prozent eingebüßt. Die Große Koalition hat keine Mehrheit mehr. Und das ist sehr bitter. Wir haben natürlich im Präsidium und im Bundesvorstand ausführlich darüber beraten. Und ich möchte hier dennoch zunächst die Gelegenheit nutzen, Frank Henkel und allen Berliner Freunden trotz aller Enttäuschung für ihren großartigen Einsatz zu danken.

Nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern hatte ich ganz gegen die sonstige Gewohnheit und gegen die gute Übung nicht die Gelegenheit, umfassend zum Wahlergebnis Stellung zu nehmen. Ich war in China beim G20-Gipfel. Das war dafür nicht der richtige Ort, so gerne ich das auch damals schon getan hätte. Deshalb möchte ich Sie heute gerne, vielleicht auch etwas ausführlicher als sonst, an meinen Gedanken teilhaben lassen, die ich mir natürlich angesichts der Situation gemacht habe.

Sowohl die Wahl in Mecklenburg-Vorpommern als auch die gestern in Berlin haben zweifellos jeweils ihre landespolitischen Komponenten. Die Ergebnisse haben auch ihre landespolitischen Gründe, aber eben nicht nur. Ich bin Parteivorsitzende. Ich drücke mich nicht vor der Verantwortung. Und ich übernehme selbstverständlich auch hier den Teil Verantwortung, der bei mir als Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin liegt.

Wenn eine Ursache für das schlechte Abschneiden auch der CDU ist, dass manch einem Richtung, Ziel und Grundüberzeugung unserer Flüchtlingspolitik nicht ausreichend erklärt worden sind, so möchte ich mich gerne darum bemühen – nicht zum ersten Mal, definitiv nicht zum ersten Mal, aber vielleicht noch einmal nachdrücklicher.

Der Satz “Wir schaffen das” ist Teil meiner politischen Arbeit. Er ist Ausdruck von Haltung und Ziel. Viel ist in diesen eigentlich alltagssprachlichen Satz hineininterpretiert, ja sogar hineingeheimnisst worden – so viel, dass ich ihn inzwischen am liebsten kaum noch wiederholen mag. Ist er doch zu einem schlichten Motto, beinahe einer Leerformel geworden und die Diskussion um ihn zu einer immer unergiebiger werdenden Endlosschleife. Manch einer – und das zählt besonders – fühlt sich zudem von diesem Satz provoziert. Und so war der kurze Satz natürlich nie gemeint.

Ich habe ihn anspornend, dezidiert anerkennend gemeint. Denn ich bin ich zutiefst von der Hilfsbereitschaft und Schaffenskraft der Deutschen, aller hier lebenden Menschen überzeugt.

Aber ich weiß auch, dass wir gemeinsam viel zu schultern haben, dass sich das aber in den übertrieben oft wiederholten drei Worten nicht sofort abbildet. Die Aufgabe, Hunderttausenden Menschen, die schon zu uns gekommen sind, mindestens vorübergehend Schutz zu geben, macht sich nicht mal eben einfach so und schon gar nicht über Nacht.

Meine Aufgabe ist hierbei, die Arbeit der Bundesregierung zu organisieren, dafür zu sorgen, dass Länder und Kommunen ausreichend unterstützt sind, um die zu uns kommenden Menschen bestmöglich unterzubringen, um diejenigen, die bleiben dürfen und das auch wollen, schnellstmöglich zu integrieren und die, die nicht bleiben dürfen, konsequent zurückzuführen.

Das alles sagt sich schnell, es geht aber nicht schnell – auch weil wir in den vergangenen Jahren weiß Gott nicht alles richtig gemacht haben, weil wir auch wirklich nicht gerade Weltmeister bei der Integration waren, weil wir zum Beispiel auch zu lange gewartet haben, bis wir uns der Flüchtlingsfrage wirklich gestellt haben. Wir müssen uns also jetzt gleichsam selbst übertreffen, auch ich.

Auch ich habe mich lange Zeit gerne auf das Dublin-Verfahren verlassen, das uns Deutschen, einfach gesprochen, das Problem abgenommen hat. Und das war nicht gut. Und wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen, um mich mit der ganzen Bundesregierung und allen Verantwortungsträgern besser vorbereiten zu können auf die Situation, die uns dann im Spätsommer 2015 eher unvorbereitet traf.

Seitdem bemühen wir uns mit ganzer Kraft darum, die Dinge zu gestalten, zu ordnen, zu steuern, und vieles ist dabei schon erreicht worden, sehr vieles. Dennoch weiß ich, dass es an vielen Stellen auch immer noch hakt. Mir ist klar, dass es nicht gut war, dass Flüchtlinge zu lange und zum Teil immer noch in Turnhallen untergebracht waren, dass Asylverfahren im Schnitt immer noch zu lange dauern, dass wir im Moment noch zu wenig Sprachkurse anbieten können, nicht ausreichend Lehrerinnen und Lehrer haben und dass die große Aufgabe der Integration in den Arbeitsmarkt noch vor uns liegt.

Wir arbeiten daran, unermüdlich, wir haben Gesetze in Kraft gesetzt, zum Beispiel im Bereich der Sicherheitsstrukturen und der Sicherheitsbehörden, um noch effektiver vor Terroranschlägen zu schützen, nicht nur, aber auch, weil eben nicht jeder Flüchtling in guter Absicht in unser Land gekommen ist. Wir haben im BAMF zusätzliche Stellen geschaffen, alle reißen sich dort ein Bein aus, um die Dinge voranzubringen.

Aber Sie wissen auch, dass ich nicht nur die staatlichen Stellen im Blick habe, sondern ich werde auch nicht müde zu sagen, ich bin nach wie vor begeistert, wie unermüdlich sich so viele ehrenamtliche Helfer einsetzen, wie sie ja auch kompensieren, was wir zum Teil staatlicherseits noch nicht ausreichend organisiert haben.

Gibt das alles nun Anlass, meinen Kurs in der Flüchtlingspolitik ganz oder teilweise zu korrigieren, wie es laut einer Umfrage vor einer Woche 82 Prozent der Befragten sich wünschen?

Wenn ich der schieren Zahl präzise entnehmen könnte, welche Kurskorrektur sich diese Menschen genau wünschen, so wäre ich gerne bereit, darüber nachzudenken und auch darüber zu sprechen. Darüber aber gibt diese Umfrage nun keine Auskunft.

Wenn gemeint sein sollte, dass die Menschen schlichtweg keine Fremden, speziell keine Menschen islamischen Glaubens, bei uns aufnehmen wollten, dann stehen dem unser Grundgesetz, völkerrechtliche Bindungen unseres Landes, aber vor allem auch das ethische Fundament der Christlich Demokratischen Union Deutschlands und meine persönlichen Überzeugungen entgegen. Den Kurs kann ich und die CDU nicht mitgehen.

Wenn die 82 Prozent mir aber eigentlich sagen wollen, unabhängig davon, welche konkreten Einzelmaßnahmen auch immer wir Politiker nach rechtlicher und politischer Abwägung beschließen, es soll sich die Situation nicht wiederholen, wie wir sie im vergangenen Jahr infolge einer humanitären Notlage hatten mit einem in Teilen zunächst unkontrollierten und unregistrierten Zuzug, dann kämpfe ich genau dafür, dass sich das nicht wiederholt. Dem dienen alle Maßnahmen der letzten Monate. Die Wiederholung dieser Situation will niemand, auch ich nicht.

Ich möchte nichts versprechen, was ich nicht halten kann, aber auch jetzt kommen schon immer weniger Menschen zu uns. Das ist natürlich auch eine Folge des Schließens der Balkan-Route. Dabei hilft aber vor allem, und das weiß ich, dass das umstritten ist, das EU-Türkei-Abkommen. Ich halte es nach wie vor für ein sehr wichtiges, sehr sinnvolles Abkommen, auch wenn es immer noch nicht komplett ausverhandelt ist, wenn wir zum Beispiel an die Visa-Regelung denken. Aber es ist uns mit diesem Abkommen beispielsweise bereits gelungen, das Schlepperwesen in der Ägäis wirksam zu bekämpfen. Das hat auch vielen Menschen das Leben gerettet, und das ist großartig.

Mit diesem Abkommen setzen wir an dem wichtigsten Punkt unserer Flüchtlingspolitik an, dem Bekämpfen der Ursachen von Flucht. Das ist unverzichtbar und das ist gut und richtig.

Dagegen gar nicht gut ist, wie die Europäische Union derzeit insgesamt und speziell in der Flüchtlingspolitik verfasst ist. Ich habe es mehrfach gesagt und ich wiederhole es auch jetzt: Wir haben in Europa noch immer kein gemeinsames Verständnis, die Flucht so vieler Menschen tatsächlich als das zu erkennen, was sie ist: eine globale und eine moralische Herausforderung. Wir müssen daraus die nötigen Schlussfolgerungen in Europa ziehen. Dass das noch nicht gelungen ist, das beschwert auch mich.

Ich setze mich deshalb unvermindert mit ganzer Kraft dafür ein, dass wir hier wieder das wecken können, wofür die Europäische Gemeinschaft einst stand: Solidarität und Wertezusammenhalt. Bratislava war dafür allenfalls ein Anfang.

All das, was ich Ihnen hier sage, wird niemanden überzeugen, der immer nur und das auch noch ausdauernd „Merkel weg“ schreit. Das ist mir klar. Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen. Und das Gefühl einiger geht so: Ich triebe unser Land in die Überfremdung. Deutschland sei bald nicht mehr wiederzuerkennen.

Nun wäre es unlogisch, dies mit Fakten zu kontern, auch wenn ich, dafür kennen Sie mich ausreichend, sofort in der Lage wäre, das herunterbeten zu können. Ich will dem also meinerseits mit einem Gefühl begegnen: Ich habe das absolut sichere Gefühl, dass wir aus dieser zugegeben komplizierten Phase besser herauskommen werden als wir in diese Phase hineingegangen sind.

Deutschland wird sich verändern, so wie wir uns alle verändern, wenn wir nicht gerade aus Stein sind. Es wird sich aber in seinen Grundfesten nicht erschüttern lassen. Das ist selbst in dem so einschneidenden, ja durchaus auch verunsichernden vergangenen Jahr nicht passiert.

Wer also, wenn nicht wir, sollte fähig sein, etwas Gutes aus dieser Zeit zu machen? Davon bin ich zutiefst überzeugt. Das leitet mich als Bundeskanzlerin und als CDU-Vorsitzende.

Das sind meine Gedanken nach den Landtagswahlen und in diesem Sommer, auch um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, die wir jetzt nicht überzeugen konnten, zurückzugewinnen – mit tatsächlich tragfähigen Lösungen, Schritt für Schritt.

Ich entschuldige mich oder bitte um Nachsicht, dass ich Sie so lange jetzt mit den Ausführungen unterhalten habe, hoffentlich, und möchte jetzt das Wort an Frank Henkel geben.