Hoffnung für Querschnittgelähmte: Wie Neuroengineering in der Robotik hilft, schwere Nervenschädigungen zu kompensieren

Berlin, 20. Juni 2017 –  Es ist auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Kombination: Robotik-Ingenieure arbeiten mit Neurowissenschaftlern zusammen, um neue Behandlungsmethoden für Querschnitt-gelähmte zu entwickeln. Das „Walk Again Project“ einer internationalen Forschergruppe macht Hoffnung, dass es Wege gibt, Lähmung zumindest teilweise wirkungsvoll zu über-winden. Die Patienten dieses Projekts gewannen nicht nur ein gewisses Maß an Kontrolle über ihre Beine zurück, sondern auch Teile ihres mit der Rückenmarkverletzung verlorenen Gefühls. Einer der führenden Köpfe bei dieser Pionierarbeit ist dabei Prof. Gordon Cheng, Leiter des Lehrstuhls für Kognitive Systeme an der Technischen Universität München (TUM).

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Die Bilder gingen um die Welt, erreichten ein Milliarden-Publikum vor den TV-Geräten: Den Anstoß der Fußball-WM 2014 in Brasilien übernahm ein querschnittgelähmter Mann in einem Roboteranzug, einem sogenannten Exoskelett, das er mit der Kraft seiner Gedanken steuerte. Ein von Hirnströmen ausgelöster Nervenbefehl wurde von Elektroden aufgefangen. Ein Computer setzte das dann in Steuerungsbefehle für die Motoren des Exoskeletts um. Für die dann ausgelöste Kickbewegung war allerdings ein monatelanges Training erforderlich.

Eine Schlüsselrolle spielte dabei die taktile Rückmeldung an den Patienten –auch dank einer künstlichen Haut, die Prof. Cheng entwickelt hat. Sie besteht aus in Wabenform angeordneten Hochleistungs-Mikroprozessoren mit Sensoren, die Druck, Vibration, Temperatur, Bewegung und Berührungsnähe im dreidimensionalen Raum erfassen. Die künstliche Haut wird in die Sohle des Exoskeletts integriert. Die Bewegungen des Fußes, der Druck beim Aufsetzen des Fußes werden in ganz bestimmte Vibrationen umgewandelt, die der Patient dank kleiner Motoren, die in einer Manschette montiert sind, am Oberarm spürt. Das Erstaunliche: Nach ein paar Monaten Training verbindet das Gehirn diese Vibrationen wieder mit den Bewegungen von Bein und Fuß, die Patienten nehmen die Bewegungen des Exoskeletts als Schritte wahr.

„Verantwortlich dafür ist vermutlich die sogenannte neuronale Plastizität. Das beschreibt die Fähigkeit des Gehirns, sich neu zu organisieren. Mit dem entsprechenden Training können neue Vernetzungen im Gehirn erzeugt werden“ erklärt Prof. Cheng die Auswirkungen des taktilen Feedbacks. Er ist überzeugt: „Das Gehirn hat genügend Möglichkeiten, um bei entsprechendem Training neuronale Schädigungen, wie sie etwa auch bei Multipler Sklerose und anderen neuronalen Erkrankungen vorkommen, zu kompensieren.“ Der Patient könne lernen, Roboterbeine und -füße in sein eigenes Körperschema integrieren.

Weitere Erkenntnisse soll deshalb die Erforschung von entzündlichen Erkrankungen des zentralen Nervensystems bringen. Dafür arbeitet Prof. Cheng mit Wissenschaftlern am Klinikum rechts der Isar in München zusammen. Cheng ist überzeugt, dass Ingenieur- und Neurowissenschaften viel voneinander lernen können. An der TUM wurde deshalb jetzt auch der Elitestudiengang Neuroengineering etabliert.

„Die Vernetzung neuer Hirnareale mittels Neurofeedback ist ein medizinisch äußerst spannender Ansatz, von dem hoffentlich eines Tages viele Patienten mit Querschnittlähmung und Erkrankungen des zentralen Nervensystems profitieren können. Wir werden die weitere Entwicklung sicher auch im Rahmen des Hauptstadtkongresses weiter verfolgen“, so Prof. Axel Ekkernkamp, Wissenschaftlicher Leiter des Ärzteforums beim Hauptstadtkongress und Ärztlicher Direktor sowie Geschäftsführer des BG Klinikums Unfallkrankenhaus Berlin.